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Titel
Beziehungssex. Medien und Beratung im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Wellmann, Annika
Erschienen
Köln 2011: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
299 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Lea Bühlmann, Historisches Seminar, Universität Basel

Angekommen im 21. Jahrhundert sind Sex und Beratung allgegenwärtig: Spätestens seit den 1970ern Jahren verbreiten sich Beratungsformate aller couleur explosionsartig, gleichzeitig ist Sex in populären Medien zum Tagesthema avanciert. Medial inszenierte Sexratgeber sind die Konsequenz dieser Entwicklung. Trias von Sex, Medien und Beratung hat sich Annika Wellmann in ihrer Arbeit über die Sexratgeberspalte «Liebe Marta» in der schweizerischen Boulevardzeitung Blick verschrieben. Die in Zürich eingereichte Dissertation entstand im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojekts Ratgeberkommunikation und die mediale Konstruktion des Sexuellen im Blick (1980–1995) und in aktuelle Internetforen unter der Leitung von Sabine Maasen (Basel), Alfred Messerli und Philipp Sarasin (beide Zürich). Mit ihrer Arbeit wagt sich Wellmann an eine Forschungslücke, denn Sexratgeberspalten und ihre Medialität sind bislang von der deutschen Geschichtswissenschaft kaum beachtet worden.

Für ihre diskursanalytische Untersuchung hat die Historikerin über 13 000 Briefe und 4 500 Kolumnen sowie persönliche Notizen der Ratgeberautorin Marta Emmenegger sowie Interviews mit dem ehemaligen Chefredaktor und früheren Mitarbeiterinnen ausgewertet. Zwischen 1980 und 1995 schreibt Emmenegger täglich in der Rubrik «Liebe Marta» der Boulevardzeitung Blick eine Ratgeberkolumne, in der Liebe, Sex und Partnerschaft öffentlich verhandelt werden. Ausgehend von Michel Foucaults Sexualitätsdispositiv geht es Wellmann um die Frage, wie Sexualität im späten 20. Jahrhundert in populären Medien durch verschiedene positive Mechanismen produziert wird. Sie interessiert sich somit für die Bedingungen, unter denen, und die diskursiven Formationen, in denen Sexualität in der Ratgeberspalte konfiguriert wird.

Das Buch gliedert sich in sieben Kapitel. Die ersten drei Kapitel fokussieren die medialen Produktionsbedingungen der Kolumne: Im ersten Kapitel skizziert Wellmann den medienhistorischen Kontext im Blick, der von ökonomischen Interessen geleitet 1980 eine Sexratgeberkolumne lanciert. Die Figur der «Liebe Marta» wird intermedial und durch biographische Konstruktionen als «Sexratgeberin der Nation» (S. 18) inszeniert und institutionalisiert. Spätestens wenn ihre Assistentinnen Ratgesuche in ihrem Stil, mit ihrer Signatur beantworten, wird die «Liebe Marta» zur Marke. Wie die konkreten Ratgesuche bearbeitetet, die Kolumne produziert und damit der «Sex im Vorfeld der Publikation im Blick konstruiert» (S. 71) wird, behandelt das zweite Kapitel. Die Autorin zeichnet das informative Netzwerk aus Ärzten, Psychologen, Beratungsstellen und Therapeuten nach, das sich Emmenegger aufbaut, um auf die heterogenen Anfragen zu reagieren, und beschreibt, wie sich die «Liebe Marta» verschiedener Kommunikationskanäle bedient: Sie berät in der Kolumne, in Radio- und Fernsehsendungen, Briefen oder persönlichen Gesprächen. Wellmann zeigt nicht nur, wie die Ratgeberin ihren Diskurs archivalisch ordnet, sondern auch, wie das Reden über Liebe, Sex und Partnerschaft in der Kolumne medial organisiert ist: Durch redaktionelle Um-Schreibung der Briefe wird ein Narrativ produziert, das sich an Beziehungsproblemen mit sexueller Komponente orientiert. Im dritten Kapitel nimmt Wellmann die Medialität der Kolumne, genauer die Produktion einer spezifischen Kommunikationssituation zwischen Kolumne/Zeitung und LeserInnen in den Blick. Die Platzierung der Kolumne auf der «Leserseite», ihre strukturelle und typographische Gestaltung als Brief sowie Paratexte und Porträtbilder der Ratgeberin sollen Vertrauen aufbauen und zur LeserInnenbindung beitragen.

Nach dem dritten Kapitel verschiebt sich die Perspektive von der Produktion der Kolumne hin zur Produktion (sexueller) Normen, die durch diskursive Einund Ausschlussverfahren hervorgebracht werden. In Kapitel vier zeigt Wellmann, dass die Ratgeberin auf den in den Ratgesuchen problematisierten und daher immer als verbesserungsfähig konstatierten Sex mit dem «moderne[n] Imperativ der Arbeit an sich selbst» (S. 136) reagiert. Die Ratschläge – Anwendung physischer und psychischer Techniken – sind als Vorschläge formuliert. Dem beratenen Subjekt wird damit Verantwortung auferlegt, ein Selbstbezug hergestellt mit dem Ziel, den Sex zu optimieren. Wellmann kontextualisiert die Ratschläge in der Logik des lebenslangen Lernens. Das in der Kolumne konstruierte Normgefüge ist der Fokus des fünften Kapitels und der eigentliche Kern von Wellmanns «Liebe Marta»-Lektüre. Paarbeziehungen werden als Norm der Beziehungskonzeption
idealisiert. Effekt und Praktik einer guten, heisst partnerschaftlichen Beziehung, so die Kolumne, ist die Kategorie Sex. Sex und Beziehung werden als Einheit, als «Beziehungssex» konzipiert: Die gute Beziehung ist notwendige Bedingung von gutem Sex, umgekehrt dient Sex dem Erhalt der Beziehung. Im Reden der «Lieben Marta» über Sex und Beziehung formiert sie partnerschaftlichen Beziehungssex zur (neuen) Norm. In Anlehnung an Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes Verständnis des Sozialen beziehungsweise der Gesellschaft als diskursiv hergestellte skizziert Wellmann im sechsten Kapitel, wie in der Kolumne das Soziale durch Grenzziehungen oder Äquivalenzrelationen produziert und darin der Sex verortet wird. Die Kolumne projiziert den Sex in ein von ihr selbst (re)produziertes Feld des Sozialen, das anhand diskursiver Ein- und Ausschlüsse der (sozialen) Kategorien Geschlecht, Nationalität, Alter, sozioökonomischer Status aber auch von Behinderung und AIDS strukturiert wird. So kommen Menschen mit Behinderungen zwar zur Sprache – werden diskursiv sichtbar – gleichzeitig differenziert sie: Nur Beziehungen mit körperlichen Behinderungen werden thematisiert, geistige Behinderungen bleiben unerwähnt. Wellmann führt dies zurück auf die in der Schweiz bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts vorhandenen Massnahmen zur Verhinderung der Reproduktion von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Auch in Bezug auf sexuelle Praktiken, Neigungen und Begierden finden sich (diskursive) Ein- und Ausschlussverfahren: Mit Jürgen Links Konzept des flexiblen Normalismus untersucht Wellmann im letzten Kapitel, wie die Kolumne «im Feld der Lüste Normalisierungen» (S. 235) vornimmt. Obwohl die Kolumne seit den 1980er Jahren Bisexualität als «universelles Phänomen» (S. 237) diskursiviert, hält sie an der (ehelichen) Paarbeziehung fest und schreibt damit eine heterosexuelle Normativität fort. Auch sexuelle Praktiken wie Sadomasochismus, Masturbation und Pornographie werden normativ verhandelt, zwischen Möglichem und Pathologischem verortet, immer aber am Beziehungssex gemessen.

Die Arbeit von Annika Wellmann besticht durch Quellensicherheit und bietet für die Sexualitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts spannende Anknüpfungspunkte. Ihr Potential liegt sicher in der Herausarbeitung des zentralen Konzepts «Beziehungssex» in der beziehungsweise für die Sexratgeberkommunikation. Wellmann versucht mit den Bereichen Sex, Beratung und Medien ein breites Feld abzudecken: Während ihr das in Bezug auf Sex und Beratung sehr schön gelingt, kommt die medientheoretische Reflexion etwas zu kurz. Obwohl Wellmann in den ersten drei Kapiteln die medialen Produktionsbedingungen der Kolumne verhandelt, versäumt sie es zum Schluss, den Begriff des Beziehungssex’, den sie in den nachfolgenden Kapiteln herausarbeitet, nochmals auf seine medientechnische Bedingtheit zu beziehen.

Zitierweise:
Lea Bühlmann: Rezension zu: Annika Wellmann: Beziehungssex. Medien und Beratung im 20. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien, Böhlau Verlag, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 1, 2013, S. 156-158.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 1, 2013, S. 156-158.

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